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1
Monstervortrag über
Gerechtigkeit und Recht

Friedrich Dürrenmatt
Seite
Text
 
  2 Meine Damen und Herren,
ehrlich, ich komme mir verloren vor. Irregeleitet von zwei schweizerischen Professoren, die sich an der juristischen Fakultät der Universität Mainz betätigen, ließ ich mich durch einen gewissen Patriotismus verleiten, einen Vortrag über Gerechtigkeit und Recht zu halten. Patriotismus macht blind. In ihrer Blindheit nahmen die schweizerischen Juristen an, ich hätte als schweizerischer Komödienschreiber etwas mit Gerechtigkeit und Recht zu tun, und ich nahm in meiner Blindheit an, ich sei fähig, über ein Thema zu reden, mit dem ich nichts zu tun habe. Der Irrtum der beiden Juristen ist verständlich und nur insofern patriotisch bestimmt, als sie durch ihren Patriotismus zu jener Gedankenlosigkeit verführt wurden, die gerade das Wesen des Patriotismus ausmacht und die sie hinder-
 
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te, von selbst hinter ihren Irrtum zu kommen. Dieser Irrtum wird dadurch hervorgerufen, daß in den Stoffen, die wir Dramatiker behandeln, alle möglichen und unmöglichen Verbrechen vorkommen, Mord, Rechts- und Ehebrüche usw., usw., eine Tatsache, die leicht zur Meinung verleitet, dem Dramatiker gehe es um Gerechtigkeit und Recht; in Wahrheit beschäftigt sich der Dramatiker ebensowenig damit wie der Verbrecher; wie der Verbrecher begnügt sich der Dramatiker, dem Juristen Stoff für dessen Nachdenken und Klassifizieren zu liefern. Ob nun ein wirklicher Herr X oder ein fingierter Herr Ödipus seinen Vater tötete und mit seiner Mutter schlief, interessiert den theoretischen Juristen nicht, ihn interessiert nur der Fall an sich, ob er wirklich oder erfunden ist, läßt ihn gleichgültig; und was den praktischen Juristen angeht, so interessiert ihn diese Frage nur insofern, .....

 
13 ... stahl, der am Vater des zweiten Reiters begangen wurde, müßten wir den ungesühnten Diebstahl beifügen, den der kriminelle Beobachter begeht.
Doch auch dem zweiten Teil der Weltgerechtigkeitsrechnung droht eine ungünstigere Bilanz, denn was den Tod des dritten Reiters betrifft, so scheint diese Sühne für die Vergewaltigung der Frau des ersten Reiters auf einmal fraglich, in der Weise, daß eine Zeitverschiebung eintreten könnte: Weil der zweite Reiter an der Quelle ja nichts fand, das er hätte stehlen können, hätte er auch keinen Grund gehabt, schleunigst aufzubrechen. Der erste Reiter hätte in diesem Falle bei seiner Rückkehr zwei Reiter an der Quelle getroffen, den noch weilenden zweiten und den neu hinzugekommenen
 
14 dritten. Der erste Reiter hätte dadurch entweder die beiden andern oder einen der beiden andern des Diebstahls bezichtigt. Hätte er einen der beiden andern Reiter beschuldigt, hätte er den zweiten Reiter beschuldigt, da sich der zweite vor dem dritten an der Quelle befand. Je nach den Beschuldigungen hätte der erste Reiter entweder gegen die beiden andern oder gegen den zweiten Reiter gekämpft. In der ersten Variante ist der Tod des ersten Reiters wahrscheinlich, einer gegen zwei, in der zweiten Variante tötet der erste entweder den zweiten oder der zweite den ersten. In jeder Variante bleibt die Vergewaltigung unbestraft, und in jeder Variante ist die Gerechtigkeit unvollkommen. Entweder wird der erste für den Diebstahl, den er am Vater des zweiten Reiters begangen hatte, mit dem Tode bestraft, doch der zweite Reiter kommt ...  
48 Das ist die Geschichte vom Propheten und den drei Reitern. Wie wir die Geschichte auch modifizieren, immer stellt der Prophet die Ungerechtigkeit der Welt fest, muß sie feststellen - wenn auch in der letzten Variante ihn Allah persönlich aufzuklären hat - Propheten geben radikale Urteile ab, wir wissen es. Daß diese radikalen Urteile dennoch eine Wahrheit enthalten, spüren wir, viele, am eigenen Leibe. Die Welt ist in Unordnung, und weil sie sich in Unordnung befindet, ist sie ungerecht. Dieser Satz scheint so evident, daß wir ihn ohne nachzudenken als wahr betrachten. Doch ist er in Wirklichkeit problematisch, weil die Gerechtigkeit problematisch ist. Die Gerechtigkeit ist eine Idee, die eine Gesellschaft von Menschen voraussetzt. Ein Mann allein auf einer Insel kann seine Ziegen  
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gerecht behandeln, das ist alles. Eine Idee ist denkbar, es fragt sich nur, ob sie zu verwirklichen sei, ob sich eine gerechte Gesellschaftsordnung ebenso konstruieren lasse wie etwa eine Maschine.
Hier folgt eine längere Abhandlung über den Versuch, eine gerechte Gesellschaftsordnung zu konstruieren.
Wer den ganzen Text nachlesen möchte findet ihn im
Diogenes-Band 23073

Dürrenmatt
Philosophie und Naturwissenschaft
Monstervortrag über Gerechtigkeit und Recht
nebst einem helvetisches Zwischenspiel
 
 
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Schrift karolingische Minuskel und Unziale
(den heutigen Lesegewohnheiten angepaßt)
Tinte mit Bandzugfeder
Fotos aus Algerien von Dr. Eva Maria Brugger
aus Spanien von Angelika Richter
Auflage 13 numerierte Exemplare auf Maschinenbütten
(Verkleinerung der Texte auf 60%)
alle Arbeiten Claudia Richter, Tettnang 2007